Anatomy of Pain – Tuschezeichnungen von Mika Karhu in der Galerie Krüger, Koblenz
Dubravka Monreal
Das Hauptaugenmerk der Einzelausstellung „Anatomy of Pain“ liegt auf der Darstellung von emotionalen Grenzerfahrungen. Der finnische Künstler Mika Karhu geht der Frage nach, in welcher Weise Schmerzen – physischer und psychischer Natur – auf die Entwicklung der Persönlichkeit einwirken, diese maßgeblich prägen oder gar deformieren. Hierbei interessiert ihn insbesondere inwieweit persönliche Schmerzerfahrungen gesellschaftsrelevante Auswirkungen haben und in welcher Weise individuelle und kollektive Realität dabei in Wechselwirkung treten. Unter Bezugnahme auf wissenschaftliche Erkenntnisse und philosophische Theorien erforscht Mika Karhu bereits seit vielen Jahren die Folgen von sehr starken emotionalen Erfahrungen im Hinblick auf Persönlichkeitsentwicklung und soziale Interaktionsmuster. Zur Visualisierung seines Themas wählt der Künstler vielfältige Ausdrucksformen. Neben variantenreichen zeichnerischen Arbeiten umfasst sein Œuvre auch Videoinstallationen, Photographien und Skulpturen. Die Ausstellung präsentiert eine Auswahl seiner neuesten Zeichnungen in Tusche.
Über die Grenzen Finnlands hinaus bekannt geworden ist Mika Karhu vor allem durch seine großformatigen Kohlezeichnungen, in denen er das menschliche Dasein in seinen komplexen sozialen Bezügen thematisiert. Charakteristisch für diese Arbeiten ist die spannungsgeladene Veranschaulichung des verborgenen inneren Leidensdrucks in Form von schmerzvollen physischen Deformationen, die als äußerlich erkennbare Spuren auf psychische Qualen verweisen. Gleichsam als Bilderrätsel erzählt der Künstler vielschichtige Geschichten, die sich dem Betrachter erst allmählich, Schicht für Schicht, erschließen. Diese visuelle Erzählform prägt auch seine Tuschezeichnungen, wenngleich ihr gestalterischer Komplexitätsgrad geringer ist: Reduzierung auf das Wesentliche, Fokussierung und Verschleierung. Mit diesen Stilmitteln widmet sich Mika Karhu in seinen Tuschezeichnungen dem Thema Schmerz. Der Künstler verwendet eine spezielle Mischtechnik. Er überarbeitet die detailgenauen zeichnerischen Entwürfe mit transparenter oder deckender Tusche und entwirft so eine vielschichtige, diffuse und expressive Bildrealität, welche auf die Abgründigkeit des Gezeigten verweist.
Bei der ersten Begegnung mit diesen Bildern abstrahierter Physiognomien wird der orientierungssuchende Blick des Betrachters auf die Augen gelenkt. Erst allmählich erschließen sich weitere Details. Einzelne Gesichts- und Körperteile sind präzise ausgearbeitet, andere Partien hingegen verwischt oder mit deckender schwarzer Tusche überlagert, sodass sie sich der genaueren Betrachtung entziehen. Gleichzeitig wird der Blick genau auf diese Stelle gelenkt und dort festgehalten. Sichtbares und Verdecktes wird ineinander geblendet, wodurch die Bilder eine geheimnisvolle und verstörende Aura erhalten. Der Blick des Betrachters wird angeregt das klar Umrissene zu sichern, Unklarheiten zu untersuchen und ihren Bedeutungsinhalt zu hinterfragen. Markant ist die Akzentuierung der Augen jener Schmerzenswesen. Sie ziehen den Betrachter magisch an. Sinnbildlich als Fenster zur Seele scheinen sie einen tiefen Einblick ins Innere des Leidens selbst zu gewähren, zeigen Angst, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Teils entziehen sich die dargestellten Emotionen einer genaueren Bestimmung und eröffnen dem Betrachter so einen Spielraum für eigene Assoziationen und Spekulationen. Die Bildmotive reichen von Darstellungen klar erkennbarer menschlicher oder tierähnlicher Formen bis zu amorphen Schemen. Dadurch gelingt es dem Künstler von der Individualität des Schmerzes zu abstrahieren und zu einer Darstellung des Leidens „an sich“ zu gelangen.
Schmerz, als subjektiv erfahrbares Leid physischer oder psychischer Natur, berührt jeden einzelnen und ist ein ewiger Wegbegleiter der Menschheit. Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass sich Künstler zu allen Zeiten mit dem Motiv des Leidens beschäftigt haben. In unzähligen berühmten Werken werden Ereignisse wie Krieg, Folter, Missbrauch und Martyrium in Szene gesetzt, zumeist eingebettet in religiöse, mythologische oder historische Bezugssysteme. Das Leiden Christi ist in unserer christlich-abendländischen Kultur die prominenteste Darstellung dieses Themas. Schmerz – als Bestandteil unseres alltäglichen Daseins – ist zunächst eine sehr persönliche und individuelle Erfahrung. Schmerzreize sind Auslöser von Gefühlen wie Hilflosigkeit und Angst. Langfristig formen qualvolle Erfahrungen das Innere des Menschen, beeinflussen seine Denkgewohnheiten und das Verhalten in seinem unmittelbaren Umfeld. Erweitert wird diese Analyse zur Persönlichkeitsveränderung infolge von Schmerz durch neuere Erkenntnisse aus der Genforschung. Körperliche und seelische Schmerzen wirken nicht getrennt voneinander, sondern sind eng miteinander verwoben. Ein starkes psychisches Leiden kann zu physikalischen Veränderungen im Gehirn führen, sich in den Körperfunktionen manifestieren und sogar in unserem Erbgut verankert und weitergegeben werden. Mika Karhus expressive Tuschearbeiten zeugen von einer sensiblen, facettenreichen und tiefgründigen Annäherung an diese spannende Thematik.
Viele seiner künstlerischen Arbeiten beruhen auf konkreten autobiographischen Erfahrungen. In anderen befasst sich der Künstler mit globalen Problemen wie den Ursachen und Auswirkungen von Krieg oder von sozialer Benachteiligung. Immer geht es ihm um den Mensch, den es nicht nur als Individuum zu betrachten gilt, sondern darüber hinaus in seiner Gesamtheit, eingebettet in seinen sozio-kulturellen Kontext. Mika Karhu befasst sich eingehend mit einzelnen historischen Persönlichkeiten, die über Macht und großen Einfluss verfügten. So thematisiert eine Arbeit Martin Bormann, Reichsleiter der NSDAP und direkter Stellvertreter von Adolf Hitler, der in massiver Weise den Antisemitismus protegierte und bis zuletzt frei von Reue oder Einsicht dem Führer treu zur Seite stand. Mika Karhu hinterfragt, wie es dazu kommen kann, dass aus einem humanistisch gebildeten, liebevollen und fürsorglichen Familienvater ein gefühlskalter, skrupelloser und machtversessener Tyrann wird, der für den Tod tausender Unschuldiger verantwortlich ist.
Mika Karhus Arbeiten sind stets philosophisch und gesellschaftskritisch geprägt. Seiner Auffassung nach trägt Kunst die Verantwortung, intellektuelle und soziale Kritik zu üben. Kunst soll dem Betrachter neue Perspektiven auf die Dinge ermöglichen, Künstler die Rolle des Denkers und Kritikers einnehmen, vorherrschende Denkweisen, Werte und Prozesse der wandelnden Gesellschaft analysieren, hinterfragen und zur Diskussion stellen. Nach Mika Karhus‘ Ansicht ist der Künstler zugleich auch Wissenschaftler, der sich den Dingen auf der ihm eigenen Darstellungsebene nähert und ergründet.